1815 - 1870

Die ersten Jahrzehnte unter preußischer Herrschaft

Mit der Niederlage bei Waterloo ist entschieden, dass der Versuch Napoleons, seine Herrschaft auf ganz Europa zu auszudehnen, gescheitert ist.

 In Wien kommen die Monarchen des gesamten Kontinents zusammen, um nach zwei unruhigen Jahrzehnten eine dauerhafte Ordnung nach ihren Vorstellungen zu schaffen.

 

Die Spinnerei auf dem Mühlenkamp (Zeichnung von Carl Weddige 1852)

 

 

Preußen, das im Kampf gegen das revolutionäre Frankreich einen großen Teil der militärischen Lasten getragen hat, wird mit territorialen Gewinnen belohnt: so wird u.a. ganz Westfalen preußische Provinz.

 

Restauration der Fürstenmacht

In politischer Hinsicht erfährt die absolute Fürstenmacht im Wesentlichen eine Restauration. Das Verfassungsversprechen, das der preußische König Friedrich Wilhelm III. während der Befreiungskriege gegeben hat, bleibt viele Jahrzehnte unerfüllt. Erst die Revolution von 1848/49 zwingt ihn, zumindest in der verkrüppelten Form der „oktroyierten Verfassung“ von 1848 Zugeständnisse an das Volk zu machen. Als politische Neuerung ist nach 1815 allenfalls eine stark reglementierte und kontrollierte Selbstverwaltung der Städte anzusehen, während die Landbevölkerung weiterhin ohne Mitspracherechte bleibt. Als relativ modern können allenfalls die Strukturen der preußischen Verwaltung angesehen werden. Der gleichförmige Verwaltungsaufbau, die Qualifikation der meisten staatlichen Bediensteten und ein funktionierendes Kontrollsystem führen dazu, dass das staatliche Handeln aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger als verlässlich erscheinen muss. Eine der charakteristischen Neuerungen in der ersten Zeit der preußischen Herrschaft ist die Urkatasteraufnahme.

Nicht mehr rückgängig gemacht werden können die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, die die Bevölkerung der meisten deutschen Teilstaaten in Folge der französischen Revolution erlebt hat: die weitgehende Abschaffung von Standesprivilegien, die Bauernbefreiung, die Abschaffung der Zünfte und damit verbunden eine neue Gewerbefreiheit.

Rheine weist zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum typische Merkmale einer Stadt auf. Die Siedlungsgrenze hat die Fläche des späten 15. Jahrhunderts nicht überschritten, die Einwohnerzahl stagniert seit vielen Jahren. Die meisten Bürger ernähren sich von einer Tätigkeit als Handwerker oder Händler, einige sind Tagelöhner, die meisten halten zumindest Kleinvieh und ernten Obst und Gemüse in Gärten außerhalb der früheren Stadtmauern zum eigenen Bedarf.

 

Beginn der industriellen Revolution

Rheine wird aber in den nächsten Jahrzehnten die neuen Chancen in einer Art und Weise so zu nutzen wissen, dass der Charakter der Stadt sich grundlegend verändert. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen steht der Übergang von der handwerklichen zur industriellen Produktionsweise im Bereich der traditionell im nordwestdeutschen Raum schon vorhandenen Erzeugung und Verarbeitung von Garnen und Geweben. Hier hält 1844 die erste Dampfmaschine, das augenfälligste Symbol des technischen Fortschritts, ihren Einzug. Augenfällig erweist es sich, dass die Enge der Altstadt nicht in der Lage ist, die neue Form der Großproduktion zu beherbergen. Die Entwicklung der Stadt über die Ems hinweg wird eingeleitet.

Auch im Bereich der Landwirtschaft bahnen sich tiefgreifende Veränderungen an: Die bald nach Beginn der preußischen Zeit einsetzenden Teilungen der bisher nur extensiv genutzten Marken und ihre Verwandlung in Ackerflächen sind eine wesentliche Voraussetzung für die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und damit für die Versorgung der wachsenden städtischen Bevölkerung.

Die bereits 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss eingeleitete Beseitigung vieler territorialer Grenzen bedeutet den Wegfall mancher früher bestehender Hemmnisse für den Handel. Für Rheine ergibt sich jedoch zugleich eine gewisse Verschlechterung. Der früher innerhalb des Fürstbistums Münster gelegene Handelsweg entlang der Ems nach Norden wird nun durch die neue Grenze zwischen den Königreichen Preußen und Hannover durchschnitten. Die Einrichtung eines Zollamtes kann die Nachteile, die sich aus der neuen Grenzlage ergeben, kaum kompensieren. Beim Ausbau der Ems und bei der Konzipierung der Eisenbahnlinien wird sich zeigen, wie mühselig solche Vorhaben sind, wenn sie nur durch den Abschluss zwischenstaatlicher Verträge realisiert werden können.

Die Eisenbahn schließlich markiert neben der Textilindustrie den zweiten wesentlichen Entwicklungsschub für die Stadt Rheine. Als im Jahre 1856 gleichzeitig der Verkehr in drei Richtungen aufgenommen werden kann, erweisen sich die 1815 gezogenen Grenzen allmählich als obsolet.

 

Konfessionelle Veränderungen

Auf konfessionellem Gebiete ergeben sich Veränderungen, die sich letztlich auf die Veränderung der politischen Strukturen zurückführen lassen: Bis 1803 war der katholische Bischof von Münster Landesherr in Rheine. Die preußische Herrschaft zeigt sich in Religionsfragen toleranter; zugleich führt sie zu einem Zuzug von Verwaltungsbeamten evangelischer Konfession. Markanter Ausdruck dieser Entwicklung ist die Gründung einer evangelischen Kirchengemeinde im Jahre 1838.