Stadtgeschichten
Vor 80 Jahren - „Berge von Leichen“ – Der fast vergessene Luftangriff auf Rheine am 8. November 1944
Von André Schaper
Mit Vorrücken der alliierten Truppen an der Westfront im Herbst 1944 wurden besonders Ziele in Westdeutschland relevant, die als Eisenbahnknotenpunkte galten. Das war wegen seiner strategischen Bedeutung auch für Rheine -besonders wegen seiner Bahnanlagen. Diese waren auch schon am 5. Oktober 1944 das Ziel amerikanischer Bomber. Die US-Luftwaffe führte dabei kein „moral bombing“ (Bombardierung zur psychologischen Zermürbung) durch, sondern versuchte bestimmte Ziele wie die Bahnanlagen durch Flächenbombardements zu treffen. Durch die Luftaufklärung werden die Alliierten in der Nachlese ihres Angriffes bemerkt haben, dass ein weiterer Angriff auf die Gleisanlagen in Rheine erforderlich wäre. Dies geschah am 8. November 1944.
Der 8. November 1944
Als Teil einer Großoperation mit 545 B-17 „Flying Fortress“ Bomber und 145 B-24 „Liberator“ Bomber begleitet von 788 Jagdflugzeugen (Typ P-47 und P-51) sollten Ziele in Merseburg, Rheine, Nordhorn und Enschede angegriffen werden. Für die 458. Bombing Group war es die 219 Luftoperation. Die 77 B-24 Bomber-Maschinen, die den Angriff auf Rheine führen sollten, stiegen gegen 7:30 (westeuropäische Zeit) am Morgen des 8. November 1944 auf verschiedenen Flugplätzen in Südwest-England auf und machten sich über die Nordsee auf den Weg nach Deutschland.
Dem Einsatzberichts der US-Air-Force vom 13. November 1944 können wir entnehmen, dass es B-24-Flugzeuge waren, die Namen hatten wie „Miss Used“, „Dog´s life“, „Bachelors Bedlam“ oder „Stardust“. In ihnen saßen junge Piloten und Bomberbesatzungen, die über den Wolken Westeuropas ihren eigenen Krieg führten. Auch in der Luft ein brutaler Krieg mit hohen Verlusten, aber ein unpersönlicher, anonymer Krieg.
Der Wetter sei laut Einsatzbericht „cloudy“ gewesen, „durchwachsen“ wie es im Angriffsbericht heißt. Dennoch sollen alle Ziele gut zu erkennen gewesen sein. Das Flak-Feuer über Rheine wurde als „mager“ und „ungenau“ eingeschätzt. Der Angriff auf das Bahngelände begann in Rheine um 12:25. Von Nordwesten her kommend - wahrscheinlich parallel zur Ems fliegend - warfen die Amerikaner in sechs Angriffswellen aus einer Höhe von 6500 Metern (21000 foot) 158 Tonnen Bomben ab. Bei der Bombardierung des Ziels habe man „gute Ergebnisse“ erzielt, so wie es im Einsatzbericht später heißt.
Einige Augenzeugen berichteten über ihr Erleben während dieses Angriffes und wurden vom rheinenser Dokumentarfilmer Heinz Schulte festgehalten. Günter Kurth, der an diesem Tag Geburtstag hatte, saß mit seiner Familie im Bunker, außerhalb des eigentlich Angriffsgebietes. „An diesem Tag habe ich zum ersten Mal gesehen die Wände wackeln sehen. Wir saßen alle im Keller und haben gebetet. Die Gebete wurden lauter, immer lauter. Schließlich wurden sie geschrien.“
Zu den erneuten Schäden in der Stadt gehörten einige Treffer auf dem Falkenhof mit erheblichen Zerstörungen. Die große Küche für die Versorgung der Ausgebombten und der Einsatzkräfte wurde zum Delsen verlegt. Ein Militärtransport mit Wehrmachtssoldaten durfte wegen des Luftalarms nicht mehr in die Stadt einfahren. Er kommt auf Höhe oder in der Nähe der Bahnunterführung am Staelskottenweg zum Stehen und die Soldaten suchten auf Befehl Schutz unter der dortigen Brücke. Sie lagen damit allerdings mitten im Zielgebiet der Teppichabwürfe. Die Brücke erhielt mehrere Treffer. 64 Soldaten und 7 Zivilisten verlieren ihr Leben und es gibt eine große Anzahl von Verletzten. Der Augenzeuge Ludwig Sauren (1928-2011) berichtete: „Wir wohnten damals am Staelskottenweg und bei dem Luftangriff am 8. November 1944 wurde die Eisenbahnbrücke bei uns getroffen. Auf der Brücke stand ein Militärzug und bei dem Angriff liefen die Soldaten unter die Brücke. Auch Beschäftigte der Firma Hammersen suchten hier Unterschlupf. Die Anwohner hatte sogar einen aus Holz gezimmerten Verschlag eingerichtet. Alle glaubten es müsse schon ein Zufall sein, wenn diese Brücke einen Volltreffer erhielt, aber genau das geschah. Eine Bombe traf die Westseite und eine andere Bombe durchschlug die Brücke.“
Augenzeugen berichten, dass man Berge von Leichen auf Pferdewagen abtransportieren werden mussten. Gregor Gödde, beim Zeitpunkt des Angriffes 13 Jahre alt, musste zusammen mit anderen Hitler-Jungen nach dem Angriff bei den Räumungsarbeiten helfen: „Wir waren zum Zeitpunkt des Angriffs im Keller des HJ-Heims. Nach dem Angriff nahm der Jugendführer vier oder fünf von uns mit, um zu sehen, was passiert war. Und als wir an der Unterführung ankamen? Katastrophe, Katastrophe. Das kann man nicht beschrieben. Überall lagen Tote und Gliedmaße. Danach konnte ich drei Tage nicht essen.“
Nach Aktenlage des Stadtarchivs Rheine kamen 24 Zivilpersonen in Rheine um. Die Kriminalpolizei Rheine übernahm die Identifizierung der Opfer des von der NS-Propaganda betitelten „Terrorangriff“ und listet die meisten am 14. November 1944 in einem Bericht auf. Auffällig ist, dass die an diesem Tag getöteten Soldaten nicht im Sterberegister der Stadt oder des Amtes Rheine aufgeführt sind. Mit den 64 auf dem Friedhof in Königsesch beigesetzten Soldaten kamen an dem Tag fast 90 Menschen ums Leben. Jüngstes Opfer war dabei Helmut Hamers: Der zweijährige war zusammen mit den Überresten seiner Mutter Anita einen Tag später in ihrem Wohnhaus in der Salzbergener Straße 129 a geborgen worden.
Die damaligen propagandistische Zeitungsberichte belegen, wie sehr der Angriff und seine Opfer für die Durchhalteparolen der Nationalsozialisten missbraucht wurde. Die Beisetzung vieler Opfer des Bombenkrieges fand am 15. November 1944 um 8 Uhr morgens auf dem Friedhof Königesch statt.
Das Gräberfeld, auf dem 64 Soldaten und 5 Zivilisten als Opfer dieses Angriffes begraben liegen, besteht bis heute auf dem Friedhof in Königsesch und wird vom Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge gepflegt.
Genutzte Quellen:
Dokumentation von Rudi Marciniak zum Luftkrieg über Rheine 1939-1945
Zeitungsarchiv der Münsterländischen Volkszeitung
Zeitungsarchiv zeit.punkt NRW
Akten aus dem Stadtarchiv Rheine
Willi Riegert: Heimat unter Bomben: Der Luftkrieg im Raum Steinfurt und in Münster und Osnabrück 1939–1945 (2013)
Angriffsbericht der 458 Bombing Group vom 13. 11. 1944